Quantcast
Channel: Nando Stöcklin » wikipedia
Viewing all articles
Browse latest Browse all 10

Auswirkungen der Wikipedia auf die Schule

$
0
0

In der aktuellen Ausgabe des Basler Schulblattes (Ausgabe Nr. 6-7, Juni/Juli 2012) erschien ein kurzer Beitrag von mir zum Einfluss der Wikipedia auf die Schule. Der Beitrag kann auf der Website des Basler Schulblattes als Flash-Version gelesen werden (S. 4-5). Alternativ hier die von mir eingereichte unlektorierte Version des Beitrages:

Wikipedia – eine Enzyklopädie macht Schule

Januar 2001. Jimmy Wales’ Konzept für seine neue Online-Enzyklopädie klingt abenteuerlich: Eine inhaltslose Plattform im Internet, einen Knopf “Seite bearbeiten” und die Aufforderung an die Leserinnen und Leser der Enzyklopädie, den Inhalt doch gleich selbst zu schreiben. Und wenn sie schon dabei sind, sollen sie doch bitte schön noch einige Dollar für die Betriebskosten spenden.
Zehn Jahre später gibt es seine Enzyklopädie, die Wikipedia, in mehr als 250 Sprachen. Die englische Sprachversion deckt mit rund 3.5 Millionen Einträgen zehn Mal so viele Stichworte ab wie der grosse Brockhaus. Schülerinnen und Schüler können sich nicht vorstellen, wie man früher Hausaufgaben ohne die Wikipedia lösen konnte. Und das Time Magazine hat Jimmy Wales als einen der 100 einflussreichsten Denker der Welt eingestuft.

Unterschiedliche Qualität
Das ursprüngliche Konzept der Wikipedia besteht noch immer: Alle Leserinnen und Leser dürfen neue Wikipedia-Artikel anlegen und bestehende überarbeiten. Wales hat in den USA eine gemeinnützige Stiftung gegründet, die Wikimedia Foundation, und dieser die Wikipedia vermacht. Die Wikimedia Foundation ist allerdings nur für den Betrieb der Online-Enzyklopädie besorgt, nicht für den Inhalt. Sie beschäftigt keinen einzigen bezahlten Mitarbeiter, der Inhalte schreibt oder korrigiert. Das tun Tausende von Freiwilligen aus aller Welt, Studierende, Wissenschaftlerinnen, Handwerker und Pensionäre. Offensichtlich haben sie mehr Gewicht als jene, die die Offenheit der Wikipedia für Unfug nutzen, um Testeinträge zu verfassen oder um Inhalte zu manipulieren.
Die Wikipedia wurde im Laufe der Jahre kontinuierlich besser und umfangreicher. Verschiedene Vergleichstest attestieren ihr eine ähnlich hohe Qualität wie den bekannten Print-Enzyklopädien und neuerdings gar wie Fachlexika. Doch diese Tests spiegeln nur die halbe Wahrheit wider. Im Unterschied zu herkömmlichen Enzyklopädien sind die Wikipedia-Artikel qualitativ heterogen. Das hängt mit dem Redaktionsprozess
zusammen: Je nach Sprachversion kontrollieren die Freiwilligen zwar jede Änderung
systematisch bevor sie sie freischalten, aber nur bezüglich offensichtlichem Vandalismus.
Eine systematische inhaltliche Kontrolle gibt es nicht. Die Freiwilligen tun, wozu sie gerade Lust haben, ziemlich unkoordiniert. Ein Artikel wird von 100 Freiwilligen im Auge behalten, ein anderer von niemandem. Heikel sind vor allem Nischenthemen. Und genau diese werden bei Vergleichstests nicht berücksichtigt, da zum entsprechenden Eintrag in der Wikipedia das Pendant im Brockhaus oder der Encyclopædia Britannica fehlt.

Qualität einschätzen
Der Redaktionsprozess der Wikipedia unterscheidet sich stark von jenem von Printmedien. Damit ändern sich auch die Kriterien, um die Qualität einzuschätzen. Bei Wikipedia sind weniger die umstrittenen Themen heikel, wie man das bei Zeitungen oder Büchern erwarten würde, sondern vielmehr die Nischenthemen. Artikel zu Nischenthemen sind in der Wikipedia zuweilen hervorragend, aktuell und umfassend, zuweilen aber veraltet, einseitig oder lückenhaft. Die qualitative Unsicherheit ist deutlich grösser als bei prominenten Themen, die von vielen Freiwilligen beobachtet und von vielen Leserinnen und Lesern rezipiert werden. Andere Faktoren zur Qualitätsbeurteilung in der Wikipedia sind die Anzahl der beteiligten Autorinnen und Autoren, die internen Auszeichnungen und der Umgang mit Quellen, der sich etwa in der Anzahl Quellenangaben äussert.
Die Pädagogische Hochschule Bern hat speziell für Schulen den Online-Dienst Wikibu
(www.wikibu.ch) entwickelt. Dieser wertet Wikipedia-Artikel nach statistischen Kriterien wie der Anzahl der beteiligten Autoren oder der Anzahl Aufrufe aus. Damit kann er Hinweise zur Verlässlichkeit des Inhaltes eines Artikels geben. Doch Wikibu ist vor allem als didaktischer Dienst gedacht, mit dem die Funktionsweise der Wikipedia anschaulich erklärt werden kann. Zu diesem Zweck bietet Wikibu verschiedene Unterrichtsszenarien an.

Vielfältige Nutzungsmöglichkeiten
Die Wikipedia gehört heute zu den zehn häufigst aufgerufenen Websites weltweit. Die meist konzisen, kostenlos abrufbaren Zusammenfassungen eines Themas decken das Bedürfnis vieler Informationssuchenden offenbar gut.
Zwar versteht sich die Wikipedia als Online-Enzyklopädie, doch im Gegensatz zu allgemeinen Print-Enzyklopädien nennt sie Quellen und weiterführende Websites und Literatur. Damit wird sie zu einer Suchmaschine: Die Suchenden geben ein Stichwort ein und erhalten eine Linkliste, genau wie bei anderen Suchmaschinen auch. Zusätzlich bietet die Wikipedia eine Zusammenfassung des Themas. Im Unterschied zu herkömmlichen Suchmaschinen werden die Links nicht von einem Computerprogramm zusammengestellt, sondern von Menschen, die sich gegenseitig kontrollieren und allfällige Werbeeinträge unverzüglich entfernen. Die Menschen hinter der Wikipedia können auch mehrdeutige Begriffe besser auseinanderhalten als eine Computer-Software. Stösst eine algorithmische Suchmaschine etwa auf den Begriff “Springer”, ist es für sie nicht einfach zu bestimmen, ob damit die Schachfigur, der Teppich oder der Leichtathlet gemeint ist. In der Wikipedia hingegen finden wir im Artikel über die Schachfigur keine Links über den Teppich.
Gibt es zu einem Thema Einträge in anderen Sprachversionen der Wikipedia, so sind diese in der Seitennavigation verlinkt. In jeder Sprachversion verfassen die dort aktiven ehrenamtlichen Autorinnen und Autoren den Artikel zu einem Thema eigenständig, deshalb sind die anderssprachigen Artikel oft nicht einfach Übersetzungen. Die Wikipedia-Autoren sind angehalten, ein Thema möglichst objektiv zu beschreiben. Wie alle Menschen sind sie aber kulturell geprägt. Das ergibt spannende Nutzungsmöglichkeiten: Wie sieht der englischsprachige Artikel über das Schweizer Bankgeheimnis aus? Wie beschreiben italienischsprachige Autoren Silvio Berlusconi? Oder wie sehen Japaner die Schweiz? Dank automatischen Übersetzungsprogrammen wie “Google Übersetzer” können wir uns heute auch Artikel in nicht geläufigen Sprachen zumindest grob erschliessen. Ebenfalls hilfreich kann die Wikipedia für Übersetzungen von mehrdeutigen Begriffen sein oder von Fachausdrücken, die in
Wörterbüchern nicht auftauchen.

Faktenwissen verliert an Bedeutung
Die Wikipedia hat in der letzten Dekade starken Einfluss auf die Verlagsbranche genommen. Sie hat Faktenwissen beinahe unverkäuflich gemacht. Die allgemeinen Enzyklopädien, von Brockhaus, über Meyers bis hin zur Microsoft Encarta, sind in Schwierigkeiten geraten. Kürzlich hat die renommierte Encyclopædia Britannica bekanntgegeben, dass sie keine Print-Ausgabe mehr herstellen werde. Kommerzielle Enzyklopädien können mit den Tausenden unentgeltlich arbeitenden Wikipedia-Autoren nicht mithalten, weder finanziell, noch betreffend Aktualität oder Umfang.
Doch auch auf die Bildung nimmt die Wikipedia Einfluss. In oberen Schulstufen und dem Studium mehren sich die Plagiate. Schülerinnen und Studierende ein Thema zusammenfassen lassen funktioniert nur noch für sehr spezielle Themenbereiche. Die Wikipedia und andere Websites, gemeinsam mit internetfähigen Smartphones und anderen digitalen Endgeräten, machen allgemeines Faktenwissen jederzeit und überall verfügbar. Genauso wie mit dem Taschenrechner einfache Additionen oder Multiplikationen vorausgesetzt werden können und stattdessen schwierigere problembasierte Aufgaben gestellt werden, kann mit der Wikipedia Faktenwissen vorausgesetzt und es können Aufgaben gestellt werden, die darauf aufbauen. So schreiben die Schülerinnen und Schüler heute vielleicht eine fiktive Geschichte über einen Schweizer, der an Napoleons Russlandfeldzug teilgenommen hat, statt eine Zusammenfassung des Russlandfeldzuges selbst, die sich einfach aus der Wikipedia kopieren liesse.
Die Wikipedia – gemeinsam mit anderen Informationsplattformen – greift aber auch zentrale Elemente unseres Schulsystemes an. Das Schulsystem war früher darauf ausgerichtet, dass Schülerinnen und Schüler sich normiert Wissen auf Vorrat aneignen, damit sie bei Bedarf darauf zurückgreifen können. Das ist heute längst nicht mehr so wichtig wie noch vor 50 Jahren – Informationen stehen ja jederzeit zur Verfügung. Wichtiger geworden sind stattdessen Fähigkeiten, um das Internet kompetent zu nutzen und um sich die gerade benötigten Informationen jederzeit effizient zu besorgen.


Viewing all articles
Browse latest Browse all 10

Latest Images

Trending Articles





Latest Images